MEDITATIONEN
Die Fische eines Flusses sprachen zueinander: "Man behauptet, dass unser Leben vom Wasser abhängt. Aber wir haben noch niemals Wasser gesehen. Wir wissen nicht, was Wasser ist."
Da sagten einige, die klüger waren als die anderen: "Wir haben gehört, dass im Meer ein gelehrter Fisch lebt, der alle Dinge kennt. Wir wollen zu ihm gehen und ihn bitten, uns das Wasser zu zeigen."
So machten sich einige auf und kamen auch endlich in das Meer und fragten den Fisch. Als der Fisch sie angehört hatte, sagte er: "O ihr dummen Fische! Im Wasser lebt und bewegt ihr euch. Aus dem Wasser seid ihr gekommen, zum Wasser kehrt ihr wieder zurück. Ihr lebt im Wasser, aber ihr wisst es nicht."
So lebt der Mensch in Gott. Gott ist in allen Dingen, und alle Dinge sind Gott. Und doch fragt der Mensch: "Kann es Gott geben? Was ist Gott?"
aus einer Kloster-Handschrift (in: das thema 18/19 [1976])
Eine große Frage
Als tröstend die Nacht am Himmel stand
und als die Schakale schwiegen
und als das Kind endlich Ruhe fand,
um fromm im Bettchen zu liegen,
da sprach das Kind sein Nachtgebet,
wie alle Guten und Braven,
da sprach das Kind sein Nachtgebet,
und konnte vor Hunger nicht schlafen.
Es kamen Gedanken ihm sonderbar,
und es fragt:
Liebe Mutter, sag, ist das wahr,
daß irgendwo Menschen leben,
denen hat unser Vater, grad wie im Gebet,
das tägliche Brot gegeben?
Ja, sagt die Mutter, dort gibt es keine Not,
die haben Brot und tausendmal Brot.
Die haben Kuchen und Torten und Wecken
in tausend Sorten.
Das Vollkornbrot, das Zwiebelbrot,
das Grahambrot,
das Sojabrot, das Osterbrot nicht zu vergessen.
Ja, dort gibt es täglich zu essen.
Und wenn sie hungern, dann tun sie es nur
aus Sorge um die gute Figur.
Da lacht das Kind und spricht:
Das glaub‘ ich nicht.
Als tröstend die Nacht am Himmel stand
und als die Gewehre schwiegen
und als das Kind endlich Ruhe fand,
um still im Bettchen zu liegen,
da sprach das Kind sein Nachtgebet,
wie alle Frommen und Braven,
da sprach das Kind sein Nachtgebet,
und konnte vor Angst nicht schlafen.
Es kommen Gedanken ihm in den Sinn,
und es fragt:
Warum geht denn keiner hin und sagt denen
unsere Sorgen?
Sie könnten gewiß nur für einen Tag
ein Stückchen Brot uns borgen.
Darauf der Vater traurig spricht:
Nein, mein armes Kind, das können sie nicht.
Sie brauchen ihr Geld für Gewehre,
sie brauchen ihr Geld für Mord und Tod.
Das nennen sie ihre Ehre.
Sie haben schon Waffen hergestellt
für fünfmal Tod auf dieser Welt.
Doch um die Welt sechsmal zu töten,
sind noch mehr Waffen vonnöten.
Da lacht das Kind und spricht:
Das glaub‘ ich nicht.
Als tröstend die Nacht am Himmel stand,
und als die Eltern schwiegen,
da sprach das Kind sein Nachtgebet,
um sich in den Schlaf zu wiegen.
Da kommt ein letztes ihm in den Sinn:
Warum, so fragt es, geht keiner hin,
um jene das Beten zu lehren?
Die wissen wohl nichts vom Herrn Jesu Christ
und wie gut unser Vater im Himmel ist,
man müßt diese Menschen bekehren.
Darauf die Eltern: Du dummes Kind,
was das wieder für Gedanken sind.
In Wahrheit ist‘s grade umgekehrt:
Sie haben uns das Beten gelehrt.
Erika Molny
Die Ballade vom frommen Kind
Soviel ich vermochte
- soviel du mir zu vermögen gewährt hast -,
habe ich nach dir gefragt.
Und ich habe danach verlangt,
mit der Vernunft zu schauen, was ich glaube,
und viel habe ich disputiert und mich abgemüht.
Herr, mein Gott,
du, die eine Hoffnung, die ich habe,
erhöre mich,
dass ich nicht müde werde, nach dir zu fragen,
sondern allzeit brennend nach deinem Antlitz suche.
Gib du mir Kraft, nach dir zu fragen,
denn du ließest dich finden
und gabst mir Hoffnung,
dich immer mehr zu finden.
Vor dir ist meine Stärke,
vor dir ist meine Schwachheit.
Jene bewahre,
dieser hilf auf.
Vor dir ist mein Wissen,
vor dir ist mein Unwissen.
Wo du dich auftust,
nimm mich auf, wenn ich eintrete.
Wo du verschlossen hältst,
tu mir auf, wenn ich anklopfe.
Dich will ich im Sinn haben,
dich verstehen,
dich lieben.
Das alles mehre in mir,
bis du mich umgestaltest
zur Vollendung.
Augustinus (aus: Über die Dreifaltigkeit)
Der Mensch sucht Gott
Spiritualität ist das Ausgespanntsein zwischen Himmel und Erde, zwischen Mensch und Gott, zwischen Höhen und Tiefen, Enge und Weite.
Spiritualität ist das Zuhausesein in dem, was unfertig und offengeblieben ist - und dem, was erfüllt ist; das Ausgestrecktsein zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht.
Spiritualität bedeutet Heilung und Schmerz zugleich. Schmerz über das Ungerechte, Unechte, Zerstörerische; und je "spiritueller" ein Mensch ist, desto aufmerksamer ist er dafür.
Spiritualität bedeutet Aufmerksamkeit und Betroffenheit. Heilung und Reinigung, weil der spirituelle Mensch kontinuierlich seine Mitte, seine Balance sucht, um da zu ruhen, sich zu verwurzeln und von da aus wieder hinausgehen.
Spiritualität heilt vom Sicherheits- und Kontrollwahn, von Fundamentalismen - wenn sie gesunde, geerdete Spiritualität ist. Spiritualität stiftet zum Vertrauen an.
Spiritualität ist die Fähigkeit, "warum" zu fragen: sie ist eine heilige Unruhe, sich mit den Zuständen nicht zufriedenzugeben.
Spiritualität ist die Sehnsucht, die antreibt; die Suche, die nach dem Mehr fragt.
Spiritualität ist die Fähigkeit, über sich selbst hinauszugehen, nach den Sternen zu greifen; die Bereitschaft, das Leben für jemand oder etwas Größeres einzusetzen und zu geben.
Spiritualität ist nicht ein "Vielwissen", sondern ein "Verkosten der Dinge von innen her".
Spiritualität ist die unstillbare Frage nach dem, was zum Leben kommen will.
Es geht um das neue Einüben in eine Spiritualität des Hinausgehens, nicht des Hereinholens, des Mit-Teilens, nicht des unendlichen Tuns, des Befreiens, nicht der eingezäunten Sicherheiten, des Deutens - des Lebens hier und heute, des Umarmens des Lebens mit seinem schönen und seinem verzerrten Antlitz.
Eine Spiritualität der leidenschaftlichen Geduld, des Befähigens, des Ermächtigens und Ermutigens, des Hungerns und Dürstens nach der Gerechtigkeit des menschgewordenen Gottes, der ein leidenschaftlicher Freund des Lebens ist.
Spiritualität ist...
Als die Menge der himmlischen Heerscharen über den Feldern von Bethlehem jubelte: "Ehre sei Gott in den Höhen und Friede auf Erden unten den Menschen", hörte ein kleiner Engel plötzlich zu singen auf. Engel singen in geschlossenen Reihen, da fällt jede Lücke sofort auf. Die Sänger neben ihm stutzten und setzten ebenfalls aus. Das Schweigen pflanzte sich rasch fort und hätte beinahe den ganzen Chor ins Wanken gebracht.
Ein Großengel ging dem gefährlichen Schweigen nach. "Warum willst du nicht singen?" fragte er ihn streng. "Ich wollte ja singen. Ich habe gesungen bis zum 'Ehre sei Gott in der Höhe'. Als dann das mit dem 'Frieden auf Erden' kam, konnte ich nicht mehr weiter mitsingen. Das, was ich sehe, genügt mir. Es ist nicht wahr, dass es auf Erden Frieden unter den Menschen ist, und ich singe nicht gegen meine Überzeugung!" Einige seiner Nachbarn riefen laut Beifall.
"Schweigt! Vielmehr singt!" rief der große Engel ihnen zu und nahm den Rebellen zur Seite. "Du willst also wissen, was Friede ist? Du lässt es zu, dass ein friedloser Gedanke durch dein Gemüt zieht, und steckst andere mit deiner Unruhe an? Du brichst die Harmonie unseres Gotteslobes und störst die Einheit der himmlischen Welt, weil dir der Unfriede der menschlichen Welt zu schaffen macht? Du verstehst nicht, was in dieser Nacht in Bethlehem geschehen ist, und willst die Not der ganzen Welt verstehen?" Der kleine Engel verteidigte sich: "Ich behaupte nicht, alles zu verstehen. Aber ich merke doch den Unterschied zwischen dem, was wir singen und dem, was auf Erden ist. Ich halte diese Spannung nicht länger aus."
Der Großengel nickte und begann zu reden: "Wisse, dass in dieser Nacht eben dieser Zwiespalt überbrückt wurde. Dieses Kind, das geboren wurde, soll unseren Frieden in die Welt bringen. Gott gibt in dieser Nacht seinen Frieden allen und will auch den Streit der Menschen gegen ihn beenden. Wir übertönen mit unserem Gesang nicht den Zwiespalt, wie du meinst. Wir singen das neue Lied."
Der kleine Engel rief: "Wenn das so ist, singe ich gerne weiter."
Der Große schüttelte den Kopf und sprach: "Du wirst nicht mitsingen. Du wirst einen anderen Dienst übernehmen. Du wirst von heute an den Frieden Gottes zu den Menschen tragen. Tag und Nacht wirst du unterwegs sein. Du sollst an ihre Häuser pochen und ihnen die Sehnsucht nach ihm in die Herzen legen. Du wirst nichts zu singen haben, du wirst viel weinen und zu klagen haben."
Der kleine Engel war unter diese Worten zuerst kleiner, dann größer und größer geworden, ohne dass er es selbst merkte. Er wollte sich gegen diese schwere Aufgabe auflehnen, aber der andere Engel sagte: "Du hast es so gewollt. Du liebst die Wahrheit mehr als das Gotteslob. Dieses Merkmal deines Wesens wird nun zu deinem Auftrag. Und nun geh. Unser Gesang wird dich begleiten, damit du nie vergißt, dass der Friede in dieser Nacht zur Welt gekommen ist."
Dann setzte der Engel des Friedens seinen Fuß auf die Felder von Bethlehem. Er wanderte mit seinen Hirten zu dem Kind und öffnete ihnen die Herzen, dass sie verstanden, was sie sahen. Dann ging er in die weite Welt und begann zu wirken.
Angefochten und immer neu verwundet tut er seither seinen Dienst und sorgt dafür, dass die Sehnsucht nach dem Frieden nie mehr verschwindet, sondern wächst, Menschen beunruhigt und dazu antreibt, Frieden zu suchen und zu schaffen. Wer sich ihm öffnet und hilft, hört plötzlich wie von Ferne einen Gesang, der ihn ermutigt, das Werk des Friedens unter den Menschen weiterzuführen.
Vom Engel, der nicht mitsingen wollte
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